Ich stand vor dem Büroturm, schloss die Augen und atmete tief ein und erleichtert aus. Viele Monate hatte ich Bereitschaft. Das Diensthandy war mein ungeliebtes Tamagotchi. Okay, ich brauchte nur selten spät abends oder an Wochenenden antreten. Aber schon dieses Gefühl, rund um die Uhr „parat stehen“ zu müssen, hatte in einem schleichenden Prozess meine Nervenbahnen blank gelegt. Ich war urlaubsreif. Als ich vor wenigen Minuten das verhasste Diensthandy abgeben konnte, gab ich gefühlte Tonnen Last ab. Und jetzt, genau in diesem Moment, mitten im Gestank der Rushhour, fühlte ich mich federleicht. Nicht mehr mein Zirkus. Nicht mehr meine Clowns. Ich hatte ein freies Wochenende!
Thorsten und ich brauchten dringend Zeit für uns. Meine Unzufriedenheit und Gereiztheit hatte in der letzten Wochen immer häufiger zu unnötigen Streitereien geführt. Ich erhoffte mir unbeschwerte Stunden zu zweit.
Ich sah Thorsten mit unserem Bus näher kommen. Die Anhalterin spielend, hielt den Daumen raus. Bei mir angekommen, ließ die Scheibe runter: „Na, schöne Frau, wollen Sie mitfahren?“ „Wohin geht es denn?“ „Ins schöne Bergische Land zum Geocachen.“ „Das hört sich spannend an.“ Ein ungeduldiger Fahrer hupte und ich stieg schnell ein.
Ich verdöste die meiste Zeit des Freitagsstaus.
Erst an unserer Autobahn-Abfahrt in Burscheid wurde ich wieder aufmerksamer. Das Navi führte uns später über die Serpentinen ins Tal nach Altenberg. Thorsten bog kurz entschlossen auf einen Parkplatz. Er schaute auf seinem Handy in die Geocaching-App: „Ich wusste doch, dass ich ‚Altenberg‘ schon mal gelesen hatte! Da hinten, in der Nähe des Doms, liegt der älteste Cache von ganz NRW. Den sollten wir auf jeden Fall suchen.“
„Aber nicht jetzt!“, rief ich mit genervter Stimme. Daher schob ich sanfter nach: „Der Platzwart vom Stellplatz macht um siebzehn Uhr Feierabend. Lass‘ uns lieber erst dort einchecken – wenn wir zu spät kommen stehen wir vor der Schranke.“
„Na gut“, Thorstens Stimme klang angesäuert. Sicher rollte er jetzt seine Augen. Er drehte den Zündschlüssel und wir fuhren weiter.
„Schau‘ nicht so zerknittert! Dafür haben wir einen offiziellen Stellplatz mit Strom, idyllisch gelegen in der Nähe des Kombibads in Paffrath.“, hierbei beugte ich mich zu ihm rüber und küsste ihn auf die Wange.
„Ach Nika, was wäre meine Laune ohne dich?“, er lächelte mir dabei zu.
„Schlechter.“ Thorsten nickte. Wenig später durchfuhren wir Odenthal mit seinen denkmalgeschützten Bauten.
„Diese Fachwerkhäuser mit Schiefer sind typisch für das Bergische Land“, dozierte Thorsten.
„Du hast dich wohl auf einen Vortrag als Stadtführer vorbereitet, was?“, warf ich neckend ein.
Mein Schatz ging darüber hinweg: „Diese Häuser sind echt hübsch. Aber mir wären sie zu eng.“
„Nicht eng. Kuschelig. Kuschelige Lasterhöhlen.“, entgegnete ich spontan. Ich stellte mir die Räume der Wohnungen heimelig vor und lächelte bei dem Gedanken an erotische Zweisamkeit.
Schon verspürte ich Thorstens verlangenden Blick auf mir: „Rrr, eine kuschelige Lasterhöhle ist unser Bus auch. Vor allem auf einsamen Stellplätzen. Hoffentlich steht dort weit und breit niemand sonst“, lachte er, „dann können wir beide deinem Wunsch nach ‚Laster‘ die ganze Nacht nachkommen.“ Thorsten schaute mich von der Seite an. „Hey, meine Nika wird ja noch Rot. Süüüüß!“
„Gar nicht! Hunde, die bellen, beißen nicht. Wer Sprüche klopft, ist abends zu müde für jedes Laster.“, frotzelte ich belustigt zurück. Wir lachten laut und hätten fast das Navi überhört. Im letzten Moment hatten wir die richtige Ausfahrt genommen. Auf dem Rest der Fahrt hingen wir unseren eigenen Gedanken nach.
Kurz vor siebzehn Uhr waren wir angekommen, checkten ein und erhielten einen Stellplatz im hinteren Bereich der Anlage. Damit standen wir weit von der Straße entfernt und hatten keine Nachbarn. Die Büsche und Bäume schienen seit Jahren hier zu stehen. Es war trotz des festen Untergrunds ein idyllisches Fleckchen.
Wenn eine raue Stimme die Romantik zerstört
Flugs stiegen wir aus. „Herrlich!“, entfuhr es mir spontan, „So schön grün hier.“ Thorsten nahm mich von hinten in die Arme, seine sanfte Stimme hauchte: „Ja, da haben wir Glück gehabt.“ Ich drehte mich langsam um und sah in seine Augen. In meinem Bauch fühlte ich das wohlige Kitzeln meines Schmetterlingsschwarms. Zarte Küsse bedeckten mein Gesicht. Ich lehnte meinen Kopf an seiner Brust. Sein Herz schlug in einem vertrauten Takt.
Leider zerstörte in diesem Moment der Platzwart unsere Romantik mit seiner rauen Stimme: „Isch störe ija nur unjern, ävver dä Artikel solltet ihr lesse.“ Mit diesen Worten hielt er uns ein Käseblatt hin. Thorsten nahm die Zeitung an und las den gekennzeichneten Artikel vor:
Ist unser Wald noch sicher?
In den letzten Wochen liefen im Wald zwischen GL-Paffrath und K-Delbrück bereits zwei Hunde weg. (Wir berichteten) Nun meldete sich Rentnerin Frieda S. (88): „Mein Dackel Walther hat sich zu Tode erschreckt. Da ist etwas im Wald!“ Frieda S. wohnt in Katterbach und ging in den vergangenen Jahren regelmäßig mit ihrem Hund im Wald Gassi. Am letzten Samstag hätte sich ihr Walther erschrocken und losgerissen. Sie hatte ihn später auf einer Lichtung tot aufgefunden. Die Rentnerin ist sicher, dass ihr Dackel Walther von etwas Unbekanntem zu Tode erschreckt wurde. Gibt es Zusammenhänge mit den entlaufenen Hunden? Polizei und Förster hatten mehrfach Kontrollfahrten im Wald unternommen. „Dabei sei alles in Ordnung gewesen“, hieß es weiter in der gemeinsamen Pressemeldung. Beide Stellen sprechen in Bezug auf den verstorbenen Dackel von einem „bedauerlichen Einzelfall“. Sollten Besucher etwas Merkwürdiges beobachten, bittet die hiesige Polizei um Meldung unter der bekannten Rufnummer.
Kaum hatte Thorsten zu Ende vorgelesen, hörten wir die kratzige Stimme des Warts: „Jetz wesst ehr Bescheid!“. Er drehte sich um und schlurfte davon. Ich war sauer: „Der Depp hätte sich den Weg sparen können. Das Käseblatt hätte er uns beim Check-In geben können.“ „Ach Nika, nicht ärgern. Komm’ von deiner Palme runter.“ Thorsten nahm mich in den Arm und fuhr fort: „Wir haben Urlaub. Lass‘ uns eine kleine Runde drehen. Das tut uns sicher gut.“ Ich fühlte einen flüchtigen Kuss auf meinen Lippen und schon war Thorsten am Bus, legte die Zeitung hinein und schloss das Auto ab. Wir schlenderten Hand in Hand über den vollen Parkplatz zum Haupteingang des Schwimmbads.
Herrliches Sommerwetter und ein warmer Abend
Das herrliche Sommerwetter hatte viele Besucher ins Bad gelockt. Wir schauten uns die Angebote des Kombibads an. „Boah! Die Preise sind aber gesalzen.“ „Vielleicht ist es ein Spaßbad. Schau, die haben hier sogar eine Sauna. Hast Du Lust dazu?“, fragte mich mein Schatz. „Ich weiß nicht. Eher nicht. Aber ein Espresso wäre klasse.“ Mein Kopf wies dabei auf das kleine Café. Thorsten nickte nur kurz und schlug schon den Weg auf die Terrasse ein. Später entdeckten wir einen alten Minigolfplatz. Thorstens Augen leuchteten. Doch seine Stimme klang enttäuscht: „Eigentlich soll der Minigolf noch bis zwanzig Uhr geöffnet sein – aber ist niemand da.“ Ich zog das Handy aus der Hosentasche und schaute auf die Uhr: „Es ist auch schon kurz vor acht. Und mein Magen knurrt. Wie siehts bei dir aus? Wollen wir langsam den Grill anwerfen?“
„Ja, lass‘ uns zum Bus gehen.“ Thorsten schnappte meine Hand und wir schlenderten zurück. Ich zeigte in Richtung der Straßeneinmündung: „Da ist ein Schaukasten. Ich bin neugierig, ob es noch etwas Interessantes zu entdecken gibt.“
„Okay. Ich hol‘ uns schon mal die Sachen vor den Bus.“ Wir gaben uns einen flüchtigen Kuss und Thorsten verschwand mit eiligen Schritten zu unserem Stellplatz. Ich schaute ihm kurz lächelnd nach. Die Pinnwand hatte wenig zu bieten. Vermutlich war das kulturelle Angebot in der Stadt bis dato noch nicht auf den üblichen Umfang hochgefahren. Bei uns daheim war das ähnlich: Corona hatte die Kultur zum Erliegen gebracht. Erst langsam wurden die kleinen Theater wieder geöffnet. Auch der Artikel des Käseblatts war angepinnt. „Bestimmt hat der Platzwart den Aushang unter seinen Fittichen“, dachte ich belustigt. Fehlende Kulturangebote juckten mich nicht. Mir war eh mehr nach gemütlich chillen, Wein trinken und in den Sternenhimmel schauen. Zusammen mit meinem Schatz endlich wieder ein paar unbeschwerte Stunden verbringen. Das war mein Wunsch für dieses Wochenende und Thorsten bemühte sich ebenfalls, keine kritischen Themen anzusprechen. Er setzte wie ich auf die Karte „Beziehungspflege“. Leider war offenes Feuer auf solchen Stellplätzen wegen des Brandschutzes nicht erlaubt. Aber wir würden uns schon mit einem kleinen Windlicht und unserer Lichterkette eine romantische Stimmung zaubern können. Ich lächelte bei der Vorfreude auf einen knisternden Abend in mich hinein.
Ein Quietschen riss mich aus amourösen Gedanken.
Ich erschrak und schaute nach rechts auf die Ausfahrt des Bäderparkplatzes. Ein Van stand dort. Der Fahrer glotzte rüber. „Der braucht wohl neue Bremsen“, dachte ich und in meinem Kopf vernahm ich ein „Gut erkannt, Püppi“ in einer tiefen und zugleich dröhnenden Stimmlage. Ich schrak auf. „Was war das?“, fragte ich mich selbst und erhielt prompt eine Antwort in meinem Kopf „Dumme Frage! Eine Stimme in deinem Kopf, die nur du hören kannst.“ Der Kerl trug eine Basecap. Obwohl seine Augen durch den Schirm im Dunkel lagen, erschienen sie mir stechend hell. Dieses kalte Blau bohrte sich wie eine Salve Splitterpfeile in mich. Es war unangenehm, fast schmerzhaft. Ein kurzer Windstoß berührte meine Haut. Trotz der warmen Abendsonne stellten sich die zarten Härchen meiner Vorderarme auf. Mein Blick glitt irritiert zum rechten Unterarm und in der Tat zeigte sich dort klein gepickelte Gänsehaut. „Gruseliger Typ“, hörte ich mich in Gedanken sagen. Das Aufheulen des Motors richtete meine Aufmerksamkeit erneut auf den Bus. Es schien ein Camper-Van zu sein. Er hatte im Heck verdunkelte Scheiben. Das ist beliebt in der Van-Life-Szene. In einem Moment des Abbiegens reflektierte hinter dem Vorderrad ein kaltblauer Schädel. Es war eine lachende Fratze, die nur kurz aufblitzte. Passend dazu hörte ich in meinem Kopf das höhnisch dröhnende Lachen. Wie gebannt sah ich dem Fahrzeug nach. Das schwarze Heck flackert in der warmen Abendsonne blau auf. „Eiskalt wie seine Augen“, fiel mir auf. Und die Zahlen dies Nummernschildes verursachten erneut ein schauriges Frösteln: Sechs-Sechs-Sechs! Ich war erstarrt und stand nur da. Schaute dem Bus nach, der längst aus der Bildfläche verschwunden war.
Irgendwann spürte ich die wärmende Nähe meines Partners. Hinter mir stehend, verdeckte er dabei den letzten Rest der Abendsonne. Dennoch wärmte er mich mehr, als sie es vermocht hatte. Zart berührte er mit seinen Händen meine Schultern und die Hitze seiner liebenden Energie durchströmte meine Muskeln. „Hey, mein Schatz, warum kommst du nicht? Ich rufe und rufe und du reagierst nicht. Es ist schon alles fertig. Alles wartet auf dich.“ Seine Stimme war zärtlich ohne jeden Vorwurf. Ich lehnte mich mit dem Rücken an seine Brust. Ich wollte mehr seiner belebenden Energie. Langsam hob ich die linke Hand und zeigte in die Richtung, zu der ich sah: „Sechs-Sechs-Sechs! Es war der Teufel!“ Meine Stimme klang selbst in meinen Ohren kehlig. Ich hatte es mit letzter Kraft ausgestoßen. Thorsten versuchte, mich zu drehen. Doch meine Schuhe klebten am Asphalt. Ich vermochte sie nicht lösen – dazu fehlte mir in diesem Moment die Energie. Er umrundete mich und nahm mich in die Arme: „Es ist alles gut. Ich bin da. Alles ist gut. Du hattest ein paar harte Wochen. Gegen Abend gruselt es dich vielleicht wegen der Zeitungssache. Aber es ist wirklich alles gut. Niemand ist da. Auch keine Sechs-Sechs-Sechs.“ Ich spürte seine Wärme in mich fließen und langsam kam ich in das Hier und Jetzt zurück.
Später am Abend sprach mich Thorsten auf die Situation an. Ich kam mir komisch vor. Hatte ich das Auto und diesen gruseligen Freak wirklich gesehen? Vielleicht bildete ich mir die Stimme im Kopf nur ein? Kreativ war ich – keine Frage. Schäumte meine Phantasie jetzt über? Kurz zuvor war ich jedenfalls durch den Aushang im Schaukasten erneut an den Artikel erinnert worden. Wir einigten uns darauf, dieser merkwürdigen Sache keine Beachtung mehr zu schenken. Wir lachten für einen Moment sogar darüber. Gegen zehn wurde es vor dem Bus zu kalt und wir kuschelten gemeinsam im Bett. Bald waren wir völlig in unsere eigene Welt versunken. Voller Zärtlichkeit und Hingabe. Wir genossen uns. Thorsten war – wie sollte es anders sein? – wenige Minuten später eingeschlafen. Ich lag lächelnd neben ihm. Es hatte geklappt, uns einen ersten unbeschwerten Abend zu erobern. Wie sehr hatte ich mich in den vielen Monaten nach dieser Leichtigkeit gesehnt? Ich schaute meinen Schatz im Mondlicht an: Er war der Mann für mein Leben. Ich fühlte diese tiefe Liebe und kam zur Ruhe. Ich schlief ein, doch erwachte mitten in der Nacht durchgefroren. Zwar hatte ich mich aufgedeckt, aber es war nicht nur diese nächtliche Kälte. Ich hatte eine unbestimmte Ahnung, nicht mehr allein auf dem Platz zu sein. Ich schaute durch unser Heckfenster. War da nicht das Aufleuchten einer Zigarettenglut? Wurden wir beobachtet? Ich rüttelte Thorsten wach: „Da ist wer!“, zischte meine Stimme gedämpft in sein Ohr. „Mmmhnn, Schatz. Ist nen Stellplatz. Bestimmt Camper. Komm‘ her zu mir. Ich beschütz dich.“ Ich lag in seinem Arm. Doch meine Gedanken kreisten um den gruseligen Fremden vom Abend mit seinen stechenden kalten Augen und bohrendem Blick. Ich fror von innen. Nach einer Ewigkeit hörte ich ein Motorengeräusch, das sich langsam entfernte. „Endlich“, flüsterte ich beruhigt.
Ein perfekter Tag?
Es war schon zehn Uhr, als mich Thorsten mit einem sanften Kuss weckte: „Guten Morgen, meine Prinzessin“, hauchte er mir ins Ohr. „Kann ich dich mit frischem Kaffee und knusprigen Brötchen locken?“ Verschlafen brachte ich ein „noch ein bisschen“ raus. Aber er ließ nicht locker und griff zu einer Geheimwaffe: Er hatte sich neben mich gelegt und öffnete vor meinem Gesicht das Glas mit dem verführerisch duftenden Kaffeemehl. Mit seiner Hand wedelte er dieses Aroma zu meiner Nase. „Na? Lust auf einen gaaanz frischen Kaffee?“ Ich hob meine Lider und sah in seine lächelnden Augen. Er gab mir einen zarten Kuss und schon flötete der Wasserkessel. Bald war ein: „Der Kaffee ist fertig“ zu vernehmen. Ich streckte mich und gähnte laut: „Uwaaahhh“. Dann fasste ich die mir angebotene Hand und erhob mich.
Wir frühstückten und packten unsere Sachen für den Tagesausflug. Im benachbarten Wald lag die ausgesuchte Caching-Runde. Die Geocacher vor uns hatten Lob und „Favipunkte“ auf der Internetplattform hinterlassen. Beschwingt pilgerten wir in Richtung Wald. Kurz vor dem Eingang standen ein paar alte Eigenheime mit großen Vorgärten.
Es roch herrlich nach sauberer Luft mit den typischen Gewürzen des Waldes. Ich hörte das Plätschern eines kleinen Bachs. Auf der Brücke schaute ich zu ihm hinab und sah das klare Wasser über ein paar Steine fließen. Ich blieb kurz stehen und atmete tief ein. „Ist das grandios!“, rief ich begeistert aus. „Komm‘ Süße, auf uns wartet ein Abenteuer.“ Thorsten griff nach meiner Hand und zog mich in den Wald. Hier standen vor allem Laubbäume und die Wegesränder waren von jungen Bäumen und Sträuchern gesäumt. Sattes Grün in den verschiedenen Schattierungen verwöhnte die Augen. Die würzig-feuchte Luft pflegte unsere Großstadtnasen. Erholung pur! „Wir folgen erst eine ganze Weile dem Hauptweg“, informierte mich mein Supercacher. Niemand sonst war unterwegs. Typisch für einen Samstag gegen Mittag. Das monotone einen Fuß vor den anderen setzen, ließ die Gedanken fliegen. Ich spürte erleichtert die einsetzende Entspannung. Ich dachte daran, dass ich endlich freie Wochenenden und obendrein Urlaube planen könnte, wenn die neue Kollegin blieb. Ich war zuversichtlich, dass alles wieder in die richtige Reihe kam. Sogar mit Thorsten würde es dann besser laufen. Dieses Wochenende war der Anfang in ruhigere Fahrwasser ohne Streitereien. Da war ich mir just in diesem Moment sicher. Ich lächelte und schaute zu ihm rüber. Er drehte ebenfalls seinen Kopf zu mir. Unsere lächelnden Augen trafen sich. Ich sagte mit weicher Stimme: „War schön, letzte Nacht.“ „Ja, war schön, meine Nika. Sehr, sehr schön.“ Wir blieben mitten auf dem Weg stehen und küssten uns. Es war ein perfekter Tag.
Im Zielgebiet: Der erste Geocache des Tages
Nach weiteren zehn Minuten wandern kamen wir in die Nähe des ersten Geocache. Die Koordinaten lagen abseits des Weges hinter einem stacheligen Strauch. Thorsten kletterte ins Unterholz, um das Versteck des Schatzes zu suchen. Ich blieb wartend auf dem Weg zurück. In der Ferne des langen Waldweges sah ich eine Gestalt, die ungewöhnlich schnell näher kam, ohne, dass eine Bewegung zu erkennen war. Bald war dieses ‚Etwas‘ nah genug. Zwar trug er dieses Mal keine Basecap, aber die Gestalt war zweifellos der Freak vom Kombibad! Diese hellen, blassblauen Augen, deren kalter Blick mich frösteln ließ! Er stand leicht nach vorn geneigt mit geradem Rücken auf einem Rad. Je näher er kam, desto mehr Details waren erkennbar: Er hatte wieder dunkle Kleidung an. Seine Figur war mager und er schien um die zwei Meter groß zu sein. Um seinen Bauch trug er eine satinglänzende Binde. Sein Gesicht war hager. Die Haut wirkte fast blutleer und schimmerte in einem fahlen Grau. Die dunklen Haare lagen strähnig streng nach hinten gekämmt. Die Frisur und die ergrauten Schläfen verstärkten optisch seine Geheimratsecken. Meter um Meter kam er näher. Mich erfasste eine ansteigende Kälte. Sie kroch von meinen Füßen an mir hoch. Es war windstill. Dennoch fror ich. Diese frostigen Augen, die starr nach vorne gerichtet blieben. Ich drehte mich um. Ich versuchte, mich dem Bann zu entziehen. Ohne Erfolg. Mir wurde nicht wärmer. Bald hörte ich das Summen des Elektromotors. Als er an mir vorbei fuhr, war das Summen zu einem tiefen Brummen in meinem Kopf angeschwollen. Und das Brummen wurde durch das Stakkato meiner klappernden Zähne begleitet. Kurz darauf sah ich, dass dieser Kerl einen nach hinten flatternden Umhang trug. Damit erinnerte er mich an die Darstellungen von Dracula. An den Blutsauger denkend, heftete sich mein Blick auf kleine Nummernschild: „Sechs-Sechs-Sechs!“ Diese Höllenzahlen wärmten nicht – sie stießen mir einen Eispfahl ins Hirn und ließen meine Muskeln vor Angst erstarren. Erst die Stimme von Thorsten durchbrach diesen Erstarrungsbann: „Fund! Ist keine besondere Dose – brauchst nicht durch das Gestrüpp. Ich bin gleich wieder bei dir.“ Ich nahm das Grün der Bäume wahr. Bemerkte den Sonnenschein, der durch das auf dem Weg gelichtete Blätterdach fiel. Ich hielt mein Gesicht den wärmenden Strahlen entgegen. Angstvoll richtete ich meinen Blick in die Fahrtrichtung des elektrischen Monowheels. Es war nichts mehr zu sehen. Der Weg lag leer langgestreckt vor mir. Das Vertrauen in meine Wahrnehmung schwand. War ich ‚überspannt‘, wie mein Schatz es ausdrückte? Und gab mir dieser Käseblattschund den Rest? Ich hatte auf dieser Wanderung zwei weitere Male dieses Erlebnis. Ich schob es weg, sobald mir wieder warm war. Ich traute mich nicht, Thorsten davon zu erzählen – es keimte das Gefühl in mir, den Verstand zu verlieren. War es erlebt oder eingebildet?
Wind kommt auf
Gegen siebzehn Uhr hatte sich die Sonne hinter einer Wolkendecke versteckt und es wurde kühler. Ein wenig Wind kam auf. „Hoffentlich bleiben wir von Regen verschont.“, meinte Thorsten, er schaute dabei skeptisch in den Himmel, „Die Wolken sind schon ziemlich dunkel. Nur noch die eine Dose und dann machen wir Schluss für heute.“
„Oh ja, ‚Schluss für heute‘ klingt gut! Ich bin echt kaputt.“
„Die letzte Dose würde ich nur ungern liegen lassen. Nur noch die, Nika, Okay?“
„Okay“, gab ich klein bei.
Wenige Minuten später suchten wir gemeinsam im Unterholz nach dem Schatz. Vier Augen sehen mehr als zwei. Wir waren inzwischen einige Meter vom Weg entfernt. Auf einmal hörten wir einen kurzen, lauten Schrei. Es war ein grausiger Laut, der unter meiner Kopfhaut gebitzelt hatte. So stellte ich mir einen Todesschrei vor. Gleichzeitig hatte ich den Eindruck, der Ruf wäre mit einer Hand oder einem Tuch erstickt worden. Zuerst war meine Befürchtung, mein Hirn würde mir erneut einen Streich spielen. Dann trafen sich Thorstens und mein Blick. Wir sahen gegenseitig in aufgerissene Augen. In dieser Millisekunde war uns beiden klar, dass wir wirklich diesen markerschütternden Schrei gehört hatten. Wir horchten und schauten uns um. Dabei bewegten wir nur unsere Köpfe. Instinktiv vermieden wir, uns durch einen unbedachten Schritt auf einen knackenden Ast zu verraten. Es war nichts mehr zu hören! Sogar die Vögel hatten mit ihren Abendkonzerten aufgehört.
Es war gespenstisch lautlos in diesem Wald. Ich vernahm nicht einmal ein Blätterrauschen. Scheinbar war selbst der Wind wie wir in eine Starre verfallen.
„So still musste es wohl im Auge eines Hurrikans sein“, kam mir in den Sinn. Die Dämmerung schritt voran. Das Licht unter der geschlossenen Blätterdecke wurde diffus. Und die Feuchte des Bodens waberte langsam in Form kühler Nebelschwaden zwischen den Bäumen her. Wir standen dort im Unterholz und waren nicht mehr in der Lage, uns zu bewegen. Die Starre hatte sich in unseren Körpern ausgebreitet. Unsere Muskeln schienen sich nicht mehr ansteuern zu lassen.
Meine Gedanken wunderten sich: „Sagt man nicht, dass bei Panik Unmengen Adrenalin für die Flucht ausgeschüttet werden? Warum, verdammt noch mal, können wir uns nicht bewegen? Müssten wir jetzt nicht flüchten? Um unser Leben aus dem Wald rennen? Warum standen wir hier wie angewurzelt auf der Stelle? Knackte da das Unterholz? Aus welcher Richtung kam es?“
Wir fanden erneut unsere Augen und sahen die gleichen Fragen im Blick des anderen. Wir begriffen unsere identischen Gefühle. Gefangen von der eigenen Panik standen wir gemeinsam im Dickicht. Uns gegenseitig Trost aber keine Hilfe.
Ich fragte mich: „Warum hielt dieser Zustand an? Ob es am diffusen Licht lag, dass nun mein Gegenüber langsam einen bläulichen Ton annahm? Oder war es die anwachsende Kälte? Warum fiel mir sein Name nicht mehr ein? Wuchsen die wabernden Schwaden?“
Jetzt sah ich in den Augen meines Gegenübers völliges Entsetzen und das Gesicht fror von der Nasenspitze beginnend ein. Die Haut erschien mir zunehmend bläulichweiß und zarte Reiffäden überspannten bald das gesamte Antlitz. Nur die Augen schienen weiterhin lebendig wie ein Spiegel als Leinwand für die grausige Erscheinung hinter mir zu dienen.
Ich versuchte Antworten zu finden: „Was zum Teufel war da hinter meinem Rücken? Welch grauenvolles Spiel trieb man mit uns?“
Das Herz pochte angstvoll und wärmte meinen Hals mit frischem, heißen Blut. Die äußere Kühle schien für einen Augenblick vertrieben. Mein Blick richtete sich auf die Nebelschwaden, die langsam aber stetig immer höher krochen. Inzwischen erreichten sie unsere Hüfte. Bald umhüllte uns die feuchte Kälte vom Scheitel bis zur Sohle. Ich bemerkte ein letztes Mal, wie ein eisiger Luftzug von hinten meinen Hals umwehte. Dann versank ich in gnädige Schwärze.
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